Süddeutsche Zeitung, 26.02.2009


Nähe in der Distanz

Modellprojekt für Frauen

»Wir würden es immer wieder tun«, sagt Siglinde Falkenberg. Die 82-Jährige wohnt seit zwölf Jahren in einem Modellprojekt, das der Förderverein Nachbarschaftlich leben für Frauen im Alter initiiert hat. Acht Frauen ganz unterschiedlicher Herkunft im Alter von 59 bis 77 Jahren hatten sich zusammengefunden, um in jeweils eigenen Wohnungen in einem Haus zu leben und aufeinander Acht zu geben. Das hat nicht von Anfang an reibungslos geklappt, berichtet Falkenberg. »Was wir nicht bedacht haben, war unsere Unterschiedlichkeit. Der Wunsch nach Nähe auf der einen Seite und Distanz auf der anderen. Das war ein schwerer Lernprozess.« Aber nach vielen gemeinsam erlebten Schicksalsschlägen wie Krankheiten, Tod, aber auch freudigen Festen und positiven Erlebnissen sei es nun »wie in einer guten alten Ehe«. Bei diesem Lernprozess steht die zweite Gruppe des Fördervereins, die Ende 2007 am Ackermannbogen in München eingezogen ist, noch ganz am Anfang.

Christa Lippmann, Vorstandsvorsitzende und eine der Organisatorinnen der zweiten Wohngruppe berichtet, wie alles begonnen hat. »Der Förderverein sei eigentlich aus dem emanzipatorischen Gedanken« heraus entstanden, »dass Frauen einen Raum bekommen, in dem sie sich frei entwickeln können«, sagt Lippmann. »Vor 30 Jahren da war es noch nicht selbstverständlich, dass Frauen alleine verreisen oder in die Kneipe gehen konnten«. Die Gruppe »Frau im Beruf«, angesiedelt beim Evangelischen Dekanat, richtete sich an berufstätige, alleinstehende Frauen, die sich regelmäßig zu gemeinsamen Unternehmungen oder zu Vorträgen trafen. Diese Frauen überlegten sich bereits in den achtziger Jahren, wie sie im Alter leben wollten. Doch bis die erste Gruppe endlich eine passende Unterkunft gefunden hatte, dauerte es zwölf lange und turbulente Jahre. Sie hatte das Glück, dass ihnen die evangelische Landeskirche acht Wohnungen in einem Haus in Pasing zur Verfügung stellte. Auch bei der zweiten Gruppe klappte es nicht reibungslos. »Wir haben sechs Jahre lang Bauträger angeschrieben«, sagt Lippmann.

Vor ihrer Pensionierung war die 65-Jährige als Wirtschaftspsychologin bei einem Luft- und Raumfahrtkonzern beschäftigt. Das evangelische Siedlungswerk baute keine Mietwohnungen mehr, also hieß es, sich auf dem freien Wohnungsmarkt umzuschauen, und der war alles andere als offen für die Idee. Viele hätten auf die Briefe des Vereins gar nicht reagiert. »Die Bauträger haben sich wohl alte, humpelnde, hässliche Tanten vorgestellt. Einer sagte auch mal, er fürchte schlecht riechende Korridore. Dabei sind Seniorinnen doch ideale Mieterinnen«, findet Lippmann: Sie zahlten pünktlich ihre Miete und verschmutzten oder schädigten die Anlage nicht.

Schließlich wurde der Verein doch noch einig mit den Bauträgern CFS und Bouwfonds. Da die Wohnungen am Ackermannbogen unter das München Modell fallen, zahlen die Frauen der Wohngruppe II für ihre Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnungen 8,50 Euro Kaltmiete. Und sie haben Besonderheiten wie breitere Türen, ein höheres WC und größere Knöpfe im Fahrstuhl durchgesetzt. Jetzt sitzen Mirna Schnurrer, 62, Vorstandsmitglied und selbst wohnhaft am Ackermannbogen, Erna Öttl, 70, und
Wohnfrau Feodora Riotte mit Mirna Schnurrer
Nachbarschaftshilfe nicht nur im Gemeinschaftsraum: Erst vor kurzem klingelte Mirna Schnurrer (rechts) bei Feodora Riotte, weil sie nach einem Hexenschuss nicht mehr alleine in die Schuhe kam. »Es ist schön, dass man etwas fordern kann, weil man es irgendwann zurückgeben kann«, sagt Schnurrer.
Foto: Schellnegger

Feodora Riotte, 73, mit Lippmann um den großen Tisch im freundlich gestalteten Gemeinschaftsraum. Dort sprechen sie über die Vorteile ihres Wohnmodells. »Man vernetzt sich ein bisschen, und die anderen schauen nach, ob es einem gut geht«, sagt Riotte.

Erst kürzlich gab es eine »Premiere«. Da ihr nach einer schlechten Nacht der Sinn danach stand, Schlaf nachzuholen, ließ sie alle Rollos an ihren Fenstern unten und blieb im Bett. Ihre Nachbarinnen aber machten sich Sorgen um sie. Schnurrer und Öttl fassten sich schließlich ein Herz und schauten nach – den Schlüssel haben die Bewohner innerhalb der Gruppe ausgetauscht. Schnurrer erzählt, wie sie sich zaghaft, nicht wissend, was sie erwarten würde, durch die Wohnung tasteten, nur um die Nachbarin schlafend im Bett vorzufinden. »Sie schaute uns groß an, sie hat sich zum Glück aber nicht erschreckt«. Riotte fand es sogar positiv, dass die Frauen vorbeikamen.

Damit sich in Zukunft niemand umsonst Sorgen macht, haben sie ausgemacht, dass Frau Riotte in einem solchen Fall wenigstens ihr Küchenrollo öffnet, um zu demonstrieren, dass alles in Ordnung ist.

Acht Frauen von 62 bis 81 Jahren, acht Lebensgeschichten, aber alle im selben Lebensabschnitt. »Wir treffen uns nicht allzu oft«, sagt Riotte, »aber es wird mit der Zeit besser. Das muss wachsen.« »Wir sind noch zu fit, um so eine richtige Gemeinschaft zu werden«, bestätigt Öttl. Im Übrigen sei es ein gutes Gefühl zu wissen, dass die anderen da sind – nicht nur für Notfälle. »Bei Langeweile kann man fragen, ob jemand Lust hat, zum Ratschen vorbeizukommen.« Aber jetzt ist von Langeweile keine Spur. Öttl hat, wie viele der Frauen, einige soziale Verpflichtungen. Unter anderem kümmert sie sich um Senioren, die wirklich alleine wohnen – ohne den Rückhalt solch einer Wohngruppe.

GUDRUN PASSARGE