Broschüre 2011


Buchtitel_Gemeinschaftliche Wohnprojekte

Fachreferat von Dr. Albrecht Göschel

Gemeinschaftliches Wohnen: Lebensbedingungen, Lebensqualität, Lebensform

Das Gemeinschaftliche Wohnen als eine neue Lebensform, in der Menschen verschiedenen aber meist etwas fortgeschrittenen Alters zwar ihre Privatheit der eigenen Wohnungen in vollem Umfang aufrecht erhalten, dennoch aber Gemeinschaftlichkeit in einem Gebäude, in der Nachbarschaft oder auch im Quartier in Form intensivierter wechselseitiger Hilfeleistungen entwickeln, kann aus drei unterschiedlichen Perspektiven erklärt und beschrieben werden: Zum einen aus aktuellen Lebensbedingungen, die eine solche Wohnform als äußerst sinnvoll und hilfreich nahe legen; zum zweiten aus den Lebensqualitäten, die mit dieser Wohnform erreicht werden können; und zum dritten aus der Lebensform, die sich in dieser Wohnform verwirklichen lässt und die sich von gewohnten, bekannten, eingespielten und anerkannten Wohnformen deutlich unterscheidet, aber natürlich auch ihre eigenen Probleme und Herausforderung stellt.

1. Aktuelle Lebensbedingungen, die „Gemeinschaftliches Wohnen“ nahe legen.

Eine ganze Reihe von Bedingungen unseres gegenwärtigen und zukünftigen Lebens lassen es als sehr empfehlenswert für jeden Einzelnen erscheinen, gemeinschaftliches Wohnen als Wohnform zu entwickeln oder sich an entsprechenden Projekten zu beteiligen. Vor allem demographische und ökonomische Tendenzen könnten das nahe legen.

Es ist weitgehend bekannt und muss hier nicht im Detail nachgewiesen werden, dass die gegenwärtigen demographischen Trends – niedrige Geburtenraten und steigende Lebenserwartungen – zu einem gravierenden Anstieg der älteren Bevölkerungsgruppen führen. Da sich im Zuge des demographischen Wandels gleichzeitig Familienzusammenhänge auflösen, entweder weil in wachsender Zahl Menschen ohne eigene Kinder ins Alter gehen oder weil nur ein Kind geboren wurde, das mit einer Versorgung der Eltern überfordert wäre, meist auf Grund moderner Mobilitätsanforderungen auch weit entfernt leben dürfte, scheint es dringend geboten, verlässliche Beziehungen neben denen der Familie aber auch neben denen, die das Berufsleben bietet, zu entwickeln, denn auch der Beruf als Beziehungsgenerator verliert im Alter offensichtlich an Bedeutung.

Mit dem Anstieg der Zahl Älterer oder gar Hochaltriger entsteht aber ein sozialmedizinisches Problem, das das gegenwärtige Kranken- und Pflegeversicherungssystem zunehmend überfordern dürfte. Traditionell bestanden die Haupttodesursachen, die insgesamt für geringe Lebenserwartungen gesorgt haben, in der weiten Verbreitung von Infektionskrankheiten. Solche Krankheiten, wie Typhus, Scharlach, Magen-Darminfektionen oder Grippen, alles Krankheiten, die seuchenartige Ausmaße annehmen konnten, führten entweder in wenigen Tagen zum Tod oder die Erkrankten waren nach ca. vier Wochen wieder gesundet, wenn auch für lange Zeit, vielleicht für den Rest ihres Lebens geschwächt. Keine dieser Krankheiten löste aber einen langen Pflegebedarf beim einzelnen Patienten aus, und was während der Erkrankung an Versorgung notwendig wurde, übernahm in der Regel die Familie. Unter anderem durch die Überwindung diese Infektionskrankheiten als einer wesentlichen Ursache wird die verlängerte Lebenserwartung erreicht, neben Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, erheblich verbesserten Wohn- und Hygienebedingungen insgesamt usw. Wir gewinnen tatsächlich körperlich und geistig gesunde Lebensjahre hinzu. Die durchschnittlich erhöhte Lebenserwartung ist also nicht Ergebnis eines Rechentricks, durch den z.B. eine Senkung der Kindersterblichkeit als Ausdehnung der Lebenserwartungen aller, auch der Erwachsenen erscheint. Kindersterblichkeit ist bereits seit Jahrzehnten auch in Deutschland auf einem denkbar niedrigen Niveau, und dennoch steigt die Lebenserwartung kontinuierlich weiter an, um ca. drei Monate pro Geburtsjahrgang. Dieser Anstieg der Lebenserwartung, der den Erwachsenen und „Jungalten“ zugute kommt, führt nun aber zu einem gravierenden Anstieg so genannter „Alterskrankheiten“, also einerseits von Verschleißkrankheiten, andererseits von Krankheiten, die zwar nicht nur, aber doch dominant in hohem Alter auftreten, wie Herz-Kreislauferkrankungen, Krebserkrankungen, Altersdemenz, Gelenk- oder rheumatische Erkrankungen etc. Alle diese Krankheiten, von denen vorzugsweise Ältere befallen werden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie weder heilbar sind, noch zu sofortigem Tod führen, wie das bei den schwereren Infektionserkrankungen der Fall war. Sie lösen alle längeren, manchmal über Jahre andauernden Pflegebedarf aus. Und dieser kann in milder Form sehr früh einsetzen, z.B. wenn man sich nach einer Bandscheibenerkrankung nicht mehr recht bücken kann, um z.B. so eine einfache Verrichtung wie eine eigene Fußpflege durchzuführen.

Es ist diese neue Pflegeabhängigkeit, die von den Kranken- und Pflegeversicherungen gefürchtet wird und vermutlich nicht zu bewältigen ist, und die es notwendig macht, nach Versorgungsalternativen außerhalb des traditionellen Gesundheitssystems zu suchen. Dabei können die Pflegeanforderungen z. T. denkbar harmlos oder gering und dennoch nicht allein nicht zu erbringen sein, wie z.B. die genannte Fußpflege oder die Verabreichung von Augentropfen etc. Manchmal ist auch gar nicht gleich an medizinischer Versorgung, sondern einfach nur alltägliche Unterstützung zu denken, die auf Grund einer Behinderung erforderlich werden kann, wie z.B. Hilfen beim täglichen Einkauf, bei Behördengängen, bei der Erledigung von Post oder Bankgeschäften, die sich unter bestimmten Beeinträchtigungen als beschwerlich, ja als kaum zu bewältigen darstellen können.

Solche „vormedizinischen“ oder geringfügigen Hilfen können nicht an formale Einrichtungen des Gesundheits- und Pflegesystems delegiert werden, obwohl bereits erkennbar ist, dass zunehmend Patienten mit geringfügigen Erkrankungen in Krankenhäuser eingewiesen werden müssen, da sie zu Hause nicht angemessen versorgt werden können. Alterung, auch wenn diese den Gewinn gesunder Lebenszeit bedeutet, treibt also die Kosten des Gesundheitssystems in die Höhe, möglicherweise in unbezahlbare Höhen. Alternativen auf dem freien Dienstleistungsmarkt sind natürlich denkbar und bestehen auch, also z.B. in privat bezahlter Pediküre, Massage, umfassender Haushaltshilfe etc. Aber auch solche Hilfen auf einem privaten Dienstleistungsmarkt pflegen teuer zu sein und stehen damit nur Menschen mit guten Einkommen zur Verfügung. Zwar erreichen zurzeit viele Ältere mit ausgesprochen guten Einkommen das Alter, und vermutlich hat es niemals zuvor eine im Durchschnitt so wohlhabende Altengeneration gegeben wie heute. Aber zum einen wird das vermutlich so nicht bleiben, zum anderen sind private Pflegeleistungen auch jetzt schon so kostspielig, dass sie nur gehobenen Einkommensgruppen verfügbar sind, und zu denen gehören eben nicht allzu viele.

Selbstverständlich wird im Versicherungswesen seit langem über diese Probleme nachgedacht. Vor allem eine durch und durch berechtigte Verlängerung der Lebensarbeitszeit steht als Lösungsansatz für diese Überlastungen des Versicherungs- und Rentensystems zur Debatte. „Rente mit 67“ ist hier das Stichwort, und zweifelsfrei wären mit diesem Schritt etliche Probleme zu bewältigen, vorausgesetzt, es gibt die erforderlichen Arbeitsplätze für die Älteren, ohne dass sie Jüngeren verloren gehen, vorausgesetzt auch, es lassen sich Differenzierungen finden, die eine Verlängerung des Arbeitslebens nach der Art der körperlichen Arbeitsbelastung ermöglichen, also z.B. eine Aufhebung jeder formalen Altersbegrenzung und deren Ersatz durch eine Zahl von versicherungspflichtigen Arbeitsjahren, differenziert nach Art und Ausmaß der körperlichen Belastungen in diesen Jahren. Ungelöst bleibt aber auch dann das Problem einer menschenwürdigen Versorgung der Älteren bei langer, häufig jahrelanger Pflegeabhängigkeit, ein Punkt, auf den die Wohnprojekte immer wieder verweisen. Es geht ihnen häufig gar nicht so sehr darum, ob überhaupt eine Versorgung stattfinden kann. Viel wichtiger erscheint das Qualitätsproblem. Institutionelle Versorgung auch auf einem medizinisch akzeptablen Niveau wird als Entmündigung, tendenziell als entwürdigend erlebt. In der Institution verliert der „Patient“ seine Selbstbestimmungsrechte, nicht unbedingt formal, aber doch nach seinem Erleben und Fühlen. Man empfindet sich als Fall, als Behandlungsgegenstand. Dem soll das „Leben und Sterben wo ich hingehöre“ (Klaus Dörner) entgegen gesetzt werden, in dem Jeder und Jede bis zum letzten Moment als die Persönlichkeit gewürdigt und respektiert wird, die sie ihr Leben lang war. Wohngruppen mit dieser Perspektive wollen sich also nicht einfach eine Versorgung selbst verschaffen, sondern sie zielen auf eine Qualität, von der sie nicht ganz zu unrecht annehmen, dass Versorgungsinstitutionen sie grundsätzlich nicht leisten können. Sie stellen damit keinen Ersatz für formalen Institutionen, sondern eine grundsätzliche qualitative Alternative dar.

Dennoch aber werfen der Anstieg der Lebenserwartungen und damit der Anstieg von Alterserkrankungen mit ihrer Pflegeintensität auch die Frage nach den Kosten so genannten personenbezogener Dienstleistungen, wie sie Versorgung und Pflege darstellen, auf. Für diese Kosten gelten ökonomische Regeln, die, obwohl leicht nachvollziehbar, den meisten Menschen nicht bewusst sind. Dienstleistungen von lebendigen Menschen an lebendigen Menschen, und das sind personenbezogenen Dienstleistungen, lassen sich in der Regel entweder gar nicht oder nur in ganz geringem Maße rationalisieren. Die Produktivität eines solchen Dienstleistungsanbieters lässt sich also nicht durch Einsatz von Technik, durch Maschinen steigern, wie das in der Industrie, die Gegenstände produziert, selbstverständlich ist und deren ständig steigende Effektivität begründet. Diese Produktivitätssteigerung der produzierenden Industrie bedingt nun die steigenden Einkommen der dort Beschäftigten, deren Löhne und Gehälter ungefähr im Rahmen dieser wachsenden Produktivität erhöht werden. Die Produktivität der „Dienstleistungsarbeiter“ steigt aber nicht. Also müssten entweder ihre Einkommen gravierend hinter denen der Industriearbeiter und –angestellten zurückbleiben, oder ihre Dienste, gemessen an den bearbeiteten „Stückzahlen“ müssen überproportional teurer werden. Zwar versucht man immer wieder, den ersten Weg zu gehen, also die Einkommen der im Dienstleistungsbereich Tätigen so niedrig zu halten wie irgend möglich. Unterstellt man aber, dass sich diese Berufsgruppen einer solchen Benachteiligung nicht auf Dauer unterwerfen, müssen die Preise ihrer Dienste erheblich zunehmen, und damit ist unbedingt zu rechnen.

Damit ergibt sich eine doppelte Begründung für eine akute Dienstleistungskrise im Gesundheits- und Pflegewesen: Zum einen steigt durch die Alterung der Gesellschaft der Bedarf an personenbezogenen Dienstleistungen, die nicht mehr von den Familien erbracht werden können, zum anderen steigen die Kosten genau dieser Dienstleistungen permanent überproportional an. Wenn man noch die Kosten von besonderen Medikamenten hinzurechnet, die im Alter erforderlich werden können und überlange Zeit dauerhaft genommen werden müssen, wird erkennbar, dass das gegenwärtige Versicherungssystem den Kostenanstiegen im Gesundheitswesen kaum gerecht werden kann. Es scheint also dringend geboten, nach Alternativen zu suchen, will man nicht eine soziale Spaltung in Kauf nehmen, in der es den Beziehern von Spitzeneinkommen immer noch möglich ist, alle notwendigen Versorgungsleistungen entweder über Versicherungen oder direkt im Dienstleistungsmarkt zu erwerben, während ein wachsender Anteil der Bevölkerung, zu der auch große Teile der „Mittelschichtgehören“ gehören könnten, erheblich Lücken und Defizite in der Gesundheitsversorgung in Kauf nehmen muss.

Eine solche Alternative stellt das gemeinschaftliche Wohnen dar. Die Wohnform des gemeinschaftlichen Wohnens mit den Hilfsbeziehungen, die hier entstehen können und sollen, kann viele der Leistungen übernehmen, die früher von Familien erbracht und dann bis heute in immer größeren Umfang auf die öffentlichen Versorgungssysteme oder den Dienstleistungsmarkt übertragen wurden. Unsere gesamten sozialstaatlichen Leistungssysteme sind mehr oder weniger aus dieser Übertragung hervorgegangen. Informelle Hilfe zwischen Angehörigen wurde formalisiert und von öffentlichen Institutionen oder kommerziellen Anbietern übernommen, musste also bezahlt werden, aber sowohl die Bedarfs- wie die Kostenanstiege bei diesen Leistungssystemen schließen eine weitere Ausweitung sozialstaatlicher oder kommerzieller Leistungen aus. Im gemeinschaftlichen Wohnen liegen Ansätze und Potentiale, solche personenbezogenen Dienstleistungen wieder vermehrt in den Bereich der informellen Hilfen zurückzuverlagern, um so die drohende Dienstleistungskrise auszuschließen oder doch wenigstens zu mildern.

Wenn man dem gemeinschaftlichen Wohnen mit solchen Vorstellungen begegnet, es also als Wohnform der wechselseitigen Hilfen im Sinne einer Alternative zu formalisierten Dienstleistungen sieht, wird allerdings unmittelbar deutlich, dass es sich nicht um eine Bauaufgabe, also nicht um Wohnungspolitik, sondern um eine Dienstleistungsaufgabe, also um „klassische“ Sozialpolitik handelt. Es geht nicht darum, neue Häuser, sondern neue, belastbare Beziehungen zwischen Menschen zu bauen und zu entwickeln. Gegenseitige Hilfe und Unterstützung, die ja nicht immer, höchsten in seltenen Ausnahmen, bis zur Pflege schwerstbehinderter Älterer gehen müssen, sondern sich eher im Vorfeld der kleinen Unterstützungen und Handreichungen abspielen werden, können, sollen sie zu dem „Massenmodell“ werden, das angesichts der demographischen Entwicklung erforderlich ist, nicht von Neubauten abhängig gemacht werden. Im Prinzip müssen derartige Beziehungen in jedem Wohnungsbestand entwickelt werden. Die Projekte, die neu bauen oder deren Mitglieder darauf bestehen, in ein entsprechendes Gebäude, das ihren Gemeinschaftsvorstellungen entspricht, zu ziehen, können zwar als Pionier dieser neuen Wohnform gelten, aber die Regel kann eine solche Politik nicht sein. Sie muss sich auf den Bestand ausdehnen, Gemeinschaftlichkeit also grundsätzlich überall für möglich halten und zu entwickeln suchen.

2. Gemeinschaftliches Wohnen: Lebensqualitäten von Verhandlungsgemeinschaften

Menschen, die gemeinschaftliche Wohnformen suchen und entwickeln, werden dies nun nicht primär tun, um den Sozialstaat zu entlasten oder allein aus Sorge um unzureichende Gesundheits- und Pflegeleistungen der öffentlichen oder kommerziellen Einrichtungen, die entweder als minderwertig oder eben als zu teuer gesehen werden. Es scheint vielmehr, als würde sehr viel unspezifischer aber auch umfassender eine neue Art von Zugehörigkeit, eine umfassende, sichere, vertraute Umwelt mit ihrer kommunikativen Qualität gesucht. Die Ursachen für ein solches Bemühen sind in den Sozialwissenschaften relativ gut bekannt, auch wenn nie ganz klar war, in welcher Form, als die sich eben jetzt u. a. das gemeinschaftliche Wohnen herausstellt, neue Zugehörigkeiten entstehen würden.

Nach einer weitgehend geteilten Auffassung hat das, was die Soziologie „Moderne“ nennt, also die Zeit ungefähr seit Mitte des 19. Jahrhunderts, zu einer sehr umfassenden Auflösung von verlässlichen Bindungen, von „Ligaturen“ (Ralf Dahrendorf), zu einer „Entbettung“ (Anthony Giddens) des Individuums geführt. Jeder Einzelne ist, sehr bildlich gesprochen, aus dem warmen Bett sicherer und verlässlicher Beziehungen oder sozialer Zusammenhänge vertrieben worden und findet sich plötzlich in einer rauen, kalten Welt der distanzierten, meist konkurrenz- oder wettbewerbsgeprägten Beziehungen wieder, wie sie in reinster Form die moderne Arbeitswelt prägen. Da aber dieses Leben ausschließlich als Einzelner, als isoliertes, nur in kühle und lose Beziehungen integriertes Wesen nicht nur höchst unbehaglich, sondern einfach gefährlich ist, entsteht ein tiefes Bedürfnis nach einer neuen Wieder-Einbettung, nach neuen Ligaturen, nach Bindungen, die zwar die Enge und Kontrolle alter Zusammenhänge vermeiden, dennoch aber Sicherheit und Verlässlichkeit vermitteln sollen.

Ansätze solcher neuen Ligaturen zeigt das gemeinschaftliche Wohnen. Die Gruppen, die sich hier zusammenschließen, sind durch keine äußere Vorgabe verbunden, gehören also z.B. keinem gemeinsamen Glaubensbekenntnis an, das sie wie eine Klosterbruderschaft zusammenführt. Sie sind aber auch nicht miteinander verwandt, wie das in Familien der Fall ist, und sie arbeiten auch nicht zusammen in der Weise, wie das Kollegen in einem Unternehmen oder einer Behörde tun, verfolgen also nicht gemeinsam ein den Einzelnen übergreifendes Ziel. Zwar wird manchmal gefordert, dies solle der Fall sein, in der Regel fehlen aber solche verbindenden Zwecke oder Voraussetzungen. Häufig bestehen nicht einmal enge Freundschaften, die aus gemeinsamen Aktivitäten und Lebenszielen hervorgegangen sein könnten. Als Normalfall gibt es nur den Wunsch, einer Gruppe, einer Gemeinschaft anzugehören, nicht allein zu sein. Dies allein gilt als Lebensqualität. Auch die Beschaffung einer Wohnung ist weder individuelles noch gemeinschaftliches Ziel. In der Regel verfügen die Mitglieder eines Wohnprojektes über ausreichenden Wohnraum, den sie häufig sogar aufgeben, um in ein gemeinschaftliches Wohnprojekt zu ziehen. Alle derartigen Vorgaben oder Vermutungen, die auf Wohnungsversorgung oder Versorgung mit einer bestimmten Wohnung – Barrierefreiheit, ökologisch verträgliche Bauweise etc. – zielen, treffen nicht den Kern des „Gemeinschaftlichen Wohnens“. Sie sind bestenfalls Nebeneffekte oder Nebenziele von Wohnprojekten, es sei denn es handle sich „Baugruppen“, die sich explizit zur gemeinsamen Wohnungsbeschaffung zusammenschließen. Sie sind aber von „Gemeinschaftlichen Wohnen“ deutlich zu unterscheiden. Es geht – manchmal ausschließlich, manchmal primär neben anderen Zielen – um ein Zusammenleben mit anderen, um Bindungen, Ligaturen, um eine Zugehörigkeit, eine Einbettung in einen freiwillig gewählten Zusammenhang, um Gemeinschaftlichkeit in einer Gruppe von Menschen, dies aber nach Möglichkeit ohne die Kontrollen, ohne die Zwänge und Hierarchien, die traditionellen Gemeinschaften eigen waren.

Die Inhalte dieser Gemeinschaften des Gemeinschaftlichen Wohnens variieren erheblich, und dennoch handelt es sich immer um gemeinschaftliches Wohnen. Von gemeinsamen Freizeitaktivitäten und Geselligkeiten – kleine Ausflüge, Wanderungen, gemeinsame Kino- oder Theaterbesuche, Garten- oder Hoffeste – über kleine wechselseitige Hilfen z.B. bei kleinen Erkrankungen – Einkaufshilfen, Gänge zu Apotheke etc., Unterstützung bei geringfügigen Behandlungen – bis zur umfassenden Versorgung und Pflege bei schweren, lang anhaltenden oder chronischen Leiden – Krebshilfe, Rehabilitation nach Schlaganfall, ständige Fürsorge bei körperlicher oder geistiger Behinderung, Sterbebegleitung – reicht die Bandbreite der Gemeinschaftsaktivitäten in den verschiedenen Projekten des gemeinschaftlichen Wohnens, und häufig sind diese Formen fließend, gehen in einander über, entwickeln sich im Laufe der Zeit, werden aber manchmal auch zurückgenommen, wenn anfangs formulierte Ansprüche im Laufe der Zeit als zu hoch empfunden werden.

Für die Form der Gemeinschaftsaktivitäten ist in allen Wohnprojekten entscheidend, dass alles auf freiwilliger, bewusster, gewollter Verabredung basiert, und dass alle Verabredungen – im Rahmen des Möglichen – jederzeit korrigiert, neuen Bedingungen angepasst oder aufgelöst, also immer neu verhandelt werden können und müssen. Außer für die Erstellung, den Erwerb und die Finanzierung einer Immobilie werden in der Regel keine Verträge, die über eine sorgfältige Hausordnung hinausgehen, geschlossen, müssen daher auch nicht aufwendig und unter Wahrung gravierender Rechtsbindungen erst formuliert und dann entsprechend wieder gekündigt werden. Das Alltagsleben, also das eigentlich Gemeinschaftliche eines gemeinschaftlichen Wohnprojektes ist damit ständig im Fluss, ständig in Bewegung, ständig Gegenstand neuer Verabredungen und Vereinbarungen, und häufig scheinen es gerade diese permanenten Aushandelungsvorgänge, die man sich auch nicht als übermäßig aufwendig, sondern als durch und durch alltäglich vorstellen muss, zu sein, die eine Gruppe zusammenhalten, ihr Leben und Lebensqualität verleihen. Es werden also, um dies beliebte Wort zu bemühen, keine „Strukturen“ aufgebaut, die Fixierungen, Strenge und Klarheit geben könnten, die aber unweigerlich als Zwänge auf die Gruppe zurückwirken würden. Es soll alles offen und dennoch verbindlich sein, sicher und hilfreich, aber nicht zwingend, neue, selbst geschaffene Zwänge ausübend, auch wenn natürlich kein Wohnprojekt darum herum kommt, gewisse Gewohnheiten und Routinen auszubilden. Aber ohne diese wäre kein Alltagsleben durchzuhalten und zu organisieren.

Mit dieser Form ständiger Verhandlungen und Verabredungen, die sich auf alle Aspekte des Lebens beziehen können, entwickeln gemeinschaftliche Wohnprojekte Verbindungen von Sphären oder Verhaltensformen, die seit langem als getrennt und gegensätzlich gedacht werden, eine Vermittlung und Verbindung von Öffentlichem und Privatem. Der Bereich des Öffentlichen ist von Distanz der Menschen zueinander, von Rationalität und Konkurrenz, von Vorteilswahrung und Nutzenerwägungen geprägt. Beziehungen gründen sich auf Verhandlungen, auf Aushandelungen von Interessen, nicht auf Altruismus, Empathie, Zuneigung oder gar Liebe. Dies sind die Kategorien, die das Private prägen. In ihm bestimmen Nähe und Vertrautheit der Menschen zueinander die Atmosphäre und Verhaltensformen, die wir als „gemeinschaftlich“ zu bezeichnen gewohnt sind. Da aber nun einmal nicht Allen mit solcher Zuneigung und Anteilnahme begegnet werden kann, grenzen sich Gemeinschaften ab und definieren sehr klar, wer zu ihnen gehört und wer nicht, während die Verhaltensregeln des Öffentlichen gegenüber jedem Fremden gelten, so dass Öffentlichkeit grundsätzlich unbegrenzt ist.

Diese Verhandlungen und der damit verbundene Aufwand sind gleichsam der Preis, der für die Sicherheit und Geborgenheit im gemeinschaftlichen Wohnprojekt gezahlt werden muss. Es kann zumindest streckenweise als ziemlich anstrengend empfunden werden, wenn immer über alles geredet, verhandelt und das heißt unweigerlich auch gestritten werden muss. Aber nur so vermeidet man die Gefahr, sich durch eine rechtliche, vertragliche Fixierung von Verpflichtungen den Zwängen und Kontrollen zu unterwerfen, die traditionelle Gemeinschaften kennzeichnen. Und ohne diese Zusammenhänge vertiefend reflektiert zu haben, verfahren Wohnprojekte in genau dieser Weise. Sie fixieren rechtlich alles, was mit der Immobilie zusammen hängt, nicht aber das Alltagsleben, das sich im Haus oder in der Nachbarschaft anschließend als Alltagsleben abspielen soll und das dann das eigentlich Gemeinschaftliche ausmacht.

Die Qualität der Wohnform des gemeinschaftlichen Wohnens liegt damit in einem Gemeinschaftlichen, das zwar Sicherheit und Vertrautheit gewährleisten, die traditionellen Zwänge und Kontrollen des Gemeinschaftlichen aber vermeiden soll. Es verbinden sich Elemente des Privaten mit Elementen des Öffentlichen in dieser Wohnform. Sie stellt eine neue Verbindung zwischen diesen Polen des Lebens her, die in den letzten Jahrzehnten, also in dem was wir eben als „Moderne“ bezeichnen, in zunehmendem Maße verbindungslos auseinander getreten sind, sich unverbunden und unvermittelt gegenüber stehen. Gegenwärtige Aufgabe scheint es zu sein, wieder neue Brücken, neue Verbindungen zwischen solchen Polen zu schlagen, sie als Gegensätze zwar bestehen zu lassen, sie aber dennoch aneinander zu binden und zu vermitteln (Ulrich Beck). Wo das gelingt, stellt sich eine neue Bereicherung des Lebens, eine neue Vielfalt ein, die mit der polarisierenden Trennung der Pole Öffentlichkeit und Privatheit verloren gegangen war. Wenn man sich einerseits die Enge eines normalen Privatlebens, dass sich häufig auf gemeinsames Fernsehen beschränkt, andererseits die Gleichgültigkeit des Öffentlichen, z.B. des modernen Straßenverkehrs, vorstellt, ahnt man ungefähr, was gemeint ist, wenn von Verarmung des Alltagslebens durch Trennung und Verabsolutierung der Pole Privatheit und Öffentlichkeit die Rede ist. Nicht die messbaren Dienstleistungen, die man sich gegenseitig erbringt, so nützlich und hilfreich sie sein mögen, sind das Entscheidende für die Lebensqualität in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, sondern diese neue oder erneuerte Bereicherung des Alltagslebens durch die Verbindung zweiter bislang getrennter Pole, deren Trennung zu einer gravierenden Verarmung des Lebens geführt hat. Dass sich dieser neue Reichtum des Alltagslebens in wechselseitigen Unterstützungen innerhalb einer Wohngruppe manifestiert, ist selbstverständlich, aber im Grunde nur eine Nebenwirkung, die aus einer Gemeinschaftsform entsteht, in der sich Elemente des Privaten und des Öffentlichen verbinden.

Aus dieser Verbindung und Vermittlung von Privatheit und Öffentlichkeit entstehen aber auch die Probleme und Herausforderungen des gemeinschaftlichen Wohnens. Einerseits an der Frage, wieweit private Belange zum Gegenstand der Gemeinschaft werden können, andererseits an der Herausforderung und Aufgabe, einander fremde Menschen in die Gemeinschaft zu integrieren, werden diese Probleme einer Vermittlung und Verbindung der beiden Pole Öffentlichkeit und Privatheit deutlich. Bei Gesundheitsfragen, wenn es also darum geht, zu entscheiden, wieweit körperliche Hilfe und Unterstützung gewährt und gefordert werden dürfen, wird die Sphäre der Privatheit zum gemeinschaftlichen Problem. Aber auch bei Konflikten z.B. innerhalb eines Paares, das in der Gemeinschaft lebt, kann diese Frage der Offenheit oder Abgrenzung der Privatsphäre relevant werden. Grundsätzlich garantiert ein Gemeinschaftswohnprojekt jedem Mitglied, jeder Partei die gleiche Privatheit, die man auch im normalen Wohnen vorfinden oder fordern würde. Und dennoch besteht in Wohnprojekten der Anspruch einer gewissen Öffnung. Keine Regel, kein Rezept, kein Vertrag kann den Mitgliedern eines Wohnprojektes sagen oder vorschreiben, wie weit sie in dieser Hinsicht zu gehen hätten, wo ein unzugänglicher Bereich des Privatraumes beginnt, wo das Private einsetzt, das „niemanden etwas angeht“. Ganz sicher ist es falsch, zu sagen, es dürfe diesen Bereich überhaupt nicht geben. Klassische sozialistische Gemeinschaftsutopien haben immer diesen Weg gewählt, das Private total auszuschließen, es einfach als Bedürfnis zu negieren. Sie sind damit alle gescheitert. Aber niemand kann einem sagen, wie man in dieser Hinsicht verfahren soll. Die Privatsphäre, eine Privatsphäre, gleichgültig wie man sie bestimmt, darf nicht verletzt werden, sonst werden Wohnprojekte für alle Beteiligten unerträglich. Aber da in der Regel jedes Mitglied andere Vorstellungen dazu hat, was denn das unbedingt Private zu sein habe, ist der Weg zu einer Einigung mühsam. Und niemals wird es die auf Dauer absolut verbindlichen Vereinbarungen geben, immer bleibt diese Grenze Gegenstand neuer Verhandlungen und Verabredungen.

Das gleiche gilt mit der Abgrenzung zur Öffentlichkeit, die eine andere Sphäre als die des Gemeinschaftsprojektes bildet. Bei Entscheidungen über Mitglieder eines Wohnprojektes wird das sehr deutlich. Viele Wohnprojekte sind von hohen sozialen Zielen bestimmt, wollen also Menschen mit Benachteiligungen welcher Art auch immer in ihre Wohnprojekte aufnehmen, um sie gesellschaftlich zu integrieren. In der Regel bedeutet das, eine beträchtliche Heterogenität in einem Wohnprojekt nicht nur zuzulassen, sondern gezielt herzustellen. Heterogenität aber ist ein Merkmal von unpersönlicher Öffentlichkeit. Private Welten dagegen sind einem hohen Maß von Homogenität gekennzeichnet, ohne dass man der „Privatheit“ daraus einen moralischen Vorwurf machen könnte. Empathie, Zuneigung, Anteilnahme fällt den meisten Menschen nun einmal leichter gegenüber Anderen, die ihnen ähnlich sind. Dem Fremden begegnen wir alle mit „Befremden“, mit Irritation, mit Distanz. Selbst dann, wenn wir es nicht geradewegs ablehnen, was fast die Regel ist, oder den Fremden nur befristet als „Gast“ akzeptieren können, werden wir kaum die Bereitschaft zur Zuwendung aufbringen, die den vertrauten, einem selbst ähnlichen Mitgliedern eines privaten Kreises entgegen gebracht werden kann.

Auch hier gibt es keine Regeln, keine sicheren Rezepte, wie viel Heterogenität ein Wohnprojekt verkraften kann, wie viel Homogenität es braucht, um sich nicht zu überfordern. Jedes Gemeinschaftswohnen, jedes Wohnprojekt muss selbst und immer wieder neu entscheiden, was es für gut und richtig hält, was es sich zumuten kann und was es sich zumuten will. Im Rahmen der Sozialstaatsentwicklung der letzten Jahrzehnte haben wir Integrationsaufgaben an öffentliche Institutionen delegiert, so wie wir das im Gesundheitswesen mit individuellen Heilungsvorgängen auch gehandhabt haben. Und so wie Wohnprojekte möglicherweise Leistungen des öffentlichen, formalisierten und verrechtlichten Gesundheitswesens wieder in den Bereich der privaten, persönlichen und informellen Hilfen zurückholen, so können sie auch soziale Integrationsaufgaben aus den öffentlichen Institutionen wieder in den „halbprivaten“ Raum des Wohnprojekts zurückverlagern – wollen. Aber die Auslagerung an die anonyme Institution ist nicht ohne Grund erfolgt. Die Integration von Fremden, welcher Art Fremdheit das auch immer sein mag, würde einen strikt privaten Lebenszusammenhang überfordern. Im Zwischenfeld von Privatheit und Öffentlichkeit ist eine solche Leistung denkbar und vielleicht sogar wünschenswert, darf aber die privaten Elemente des Gemeinschaftlichen nicht überfordern, also z.B. nicht dazu führen, dass sich einzelne Mitglieder eines Wohnprojektes aus dem Gemeinschaftlichen in ihren Privatbereich zurückziehen, am Gemeinschaftlichen also nicht mehr teilnehmen, weil ihnen dessen Heterogenität zu viel Öffentlichkeit bedeutet.

Vor allem vor einem meist mitschwingenden, aber selten klar artikulierten Wunsch muss an dieser Stelle dringend gewarnt werden. Fast alle Bewohner von (Groß-)Städten schätzen die Erlebnisintensität, die Anregungen, die von sozialer Heterogenität ausgehen. Sie entwickeln ein gleichsam „ästhetisches“ Vergnügen an der Vielfalt der Stadt. Aber nur durch die Distanz, die man im urbanen Raum dennoch wahrt, stellt sich eine solche ästhetische Erlebnisqualität ein. Wird die gleiche Vielfalt im engsten persönlichen Umfeld verwirklicht, droht Anregungsreichtum sehr schnell in Lästigkeit, in Belastung umzuschlagen. Potentielle Mitbewohner sollten also nicht danach beurteilt werden, ob sie Anregungen oder genussvolle Ereignisse darstellen, sondern ob mit ihnen die gesicherte Kommunikation und Kooperationsmöglich ist, die ein Wohnprojekt im Alltag ständig erfordert. Mitbewohner sind keine „Konsumgegenstände“ zur Produktion eigener Erfahrungen und Erlebnisse, sondern Kooperationspartner in der ständigen Bewältigung des Alltags. Ob diese Zusammenarbeit mit möglichst geringem Aufwand erreichbar ist, sollte Auswahlkriterium sein, sonst nichts. Hilfe zu leisten, ist der zentrale Kooperationsgegenstand, nicht Erlebnisintensität zu produzieren. Hilfe aber hilft, wie Klaus Dörner immer wieder betont, nicht nur dem, dem geholfen wird, sondern auch dem, der hilft, weil sie dem Gebenden einen Lebenssinn vermittelt. Dies sollten die Kriterien für die Bildung einer Wohngruppe sein, nicht Erlebnissteigerung durch die Exotik fremder Mitbewohner.

Es muss also eine schwierige und immer wieder neue zu bestimmende Balance zwischen Homogenität und Heterogenität, zwischen Vertrautheit und Fremdheit, zwischen Privatem und Öffentlichem im Gemeinschaftlichen gefunden und austariert werden. Kein Vertrag, keine fixierten Absprachen können klären, wo diese Ausgewogenheit für ein bestimmtes Projekt liegt. Sicher ist nur, dass Wohnprojekte weniger Homogenität aufweisen sollten als strikt private Lebensbereiche, aber auch weniger Heterogenität als das Öffentliche. Ersteres wäre eine Unterforderung, die zu Langeweile und Abgrenzung führt, zur „gated community“ ohne Tore. Das zweite dagegen, die übermäßige Heterogenität würde das Gemeinschaftliche auflösen. Es wäre eine Überforderung, auf die die Mitglieder mit Rückzug reagieren, so dass sich die alte Polarisierung von Privat und Öffentlich, die im Wohnprojekt überwunden werden sollte, wieder einstellt. Es ist vermutlich eine Fehleinschätzung, wenn ein Wohnprojekt annimmt, in seiner Gemeinschaft die Vielfalt einer (Groß-)Stadt repräsentieren zu wollen oder gar aus sozialen Ansprüchen heraus repräsentieren zu müssen. Diese Vielfalt ist Ausdruck urbaner Öffentlichkeit und kann nicht ohne weiteres auf „Gemeinschaft“ übertragen werden. Genau so verfehlt wäre es aber, wollte sich ein Wohnprojekt homogen wie eine Familie zusammenfinden. Damit würde die sich immer allzu stark von ihrer Umgebung abgrenzende „natürliche“ Gemeinschaft von Verwandtschaft und Familie auf die Gemeinschaftlichkeit des Wohnprojektes übertragen, dieses gleichfalls ab- und ausgrenzen und dem Anspruch einer Vermittlung von Privatem und Öffentlichem nicht gerecht werden.

Daher ist auch die häufig und immer wieder gern gebrauchte Bezeichnung der „Wahlverwandtschaft“ für ein gemeinschaftliches Wohnprojekt unangemessen und irreführend. Ganz abgesehen davon, dass schon die Assoziation zu Goethes berühmten Roman, der bekanntlich tragisch endet, vor dieser Bezeichnung warnen sollte, sind die Beziehungen in einem Wohnprojekt eben nicht die einer Gemeinschaft von Verwandten, die immer auf dieses den Einzelnen vorgegebene Element der Verwandtschaft als ein homogenisierendes und verbindendes zurückgreifen können. Wohngemeinschaften fehlt ein solches Vorgegebenes und wird es immer fehlen, genau wie ihnen die Erotik des Paares fehlt, die die Familie begründet.

Sehr viel angemessener als der Begriff der Wahlverwandtschaft wäre der der Verhandlungsgemeinschaft, mit dem die Anforderung, die Notwendigkeit permanenter Konsensbildung zur ständigen, täglichen Herstellung der Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht wird. Zwar trifft es zu, dass auch in Verwandtschaftsbeziehungen, also gerade in der modernen Kleinfamilie ständig über alles verhandelt werden muss, da auch für diese Gemeinschaft keine tabuisierten Regeln oder Gesetze, keine Selbstverständlichkeiten mehr zu gelten scheinen – außer gewissen Inzestverboten eventuell – aber dennoch bestehen klare Hierarchien z.B. zwischen Eltern und Kindern, klare, rechtlich fixierte Verpflichtungen und Abhängigkeiten etc. Der Begriff der „Wahlverwandtschaft“ könnte nahe legen, dass derartige Regelungen auch für das gemeinschaftliche Wohnen entwickelt werden sollten, aber das ist gerade nicht der Fall, auch nicht für die nähere oder weitere Zukunft. Das gemeinschaftliche Wohnen erfüllt seine Pionierfunktion als neue Form des Zusammenlebens nur dann, wenn es sich solcher Rechtsverbindlichkeiten, solcher Neukonstruktion des Zwangscharakters historischer Gemeinschaftsformen enthält und Verbindlichkeit mit ständiger offener, informeller Alltäglichkeit verbindet. Die Vermittlung, die Brückenposition zwischen Privatem und Öffentlichem muss aufrechterhalten bleiben, ohne sich einem der beiden Pole zuzuneigen, weder der Familie oder Verwandtschaft noch der Öffentlichkeit der Stadt und der sozialstaatlichen Institutionen.

3. Gemeinschaftliches Wohnen als Lebensform – das Problem der öffentlichen Förderung

Neben den Aspekten des „Gemeinschaftlichen Wohnens“ als Resultat bestimmter aktueller Lebensbedingungen oder als Wohnform mit erheblichen, ganz besonderen Lebensqualitäten ergibt sich eine dritte Perspektive, wenn man es als eine besondere Lebensform betrachtet. Unter diesem Aspekt wird deutlich, dass im Gemeinschaftlichen Wohnen die Wiederbelebung und Neudefinition eines Bildes von Bürgerschaftlichkeit liegen kann. Gleichzeitig ergeben sich aus diesem Blickwinkel aber auch Hinweise, und das scheint mit der Frage der Bürgerschaftlichkeit des Gemeinschaftlichen Wohnens untrennbar verbunden zu sein, auf das Für-und-Wieder einer staatlichen oder „öffentlichen“ Förderung des Gemeinschaftlichen Wohnens.

In den letzten Jahren haben wir uns daran gewöhnt, in der Belebung und Verbreitung des Ehrenamtes, unbezahlten ehrenamtlichen Engagements Anzeichen für eine neue bzw. die Wiederbelebung einer alten Bürgerschaftlichkeit, eines bürgerschaftlichen Engagements zu sehen. Auch das Gemeinschaftliche Wohnen wird häufig in diesem Sinne als „bürgerschaftliches Engagement“ bezeichnet, vermutlich weil viele Gruppen explizit soziale Ziele mit ihren Projekten verbinden, z.B. also Selbsthilfe, Integration Benachteiligter oder Behinderter, ökologische oder stadtentwicklungspolitische Ziele. Dennoch unterscheidet sich das Gemeinschaftliche Wohnen ganz offensichtlich fundamental vom Ehrenamt oder einem bürgerschaftlichen Engagement in einer gemeinnützigen Organisation.

Eine ehrenamtliche Tätigkeit ist, wie der Begriff des „Amtes“ sagt, eine mehr oder weniger offizielle Tätigkeit in einer formalen Organisation, beschränkt und begrenzt auf die Erfüllung institutionell definierter Aufgaben für einen gleichfalls definierten Zeitraum, ähnlich also einer Berufstätigkeit, wenn eben auch ohne Bezahlung und meist mit deutlich niedrigerem Zeitaufwand als Berufsarbeit, obwohl es natürlich Ehrenämter geben kann, in denen der erforderliche Zeitaufwand dem einer Vollzeitberufstätigkeit nahe kommt. Gemeinschaftliches Wohnen weist ganz einfach keines dieser Merkmale auf. Wohnen ist kein Amt, sondern eine Lebensform, die man ohne Unterbrechung ständig betreibt. Und man lebt in einer Gemeinschaft, der beschriebenen Verhandlungsgemeinschaft, nicht aber in einer formalen Organisation.

Vor allem aber lebt man in einem Gemeinschaftswohnprojekt nicht aus altruistischen oder karitativen Gründen, sondern weil man die Lebensqualität dieser Wohnform für die eigene Person schätzt und realisieren will. Man tut also erst einmal etwas für sich selbst, sei es dass man sich der Kommunikation oder der kleinen Hilfen im Alltag versichert, die ein Wohnprojekt verspricht, sei es dass man weitergehende Erwartungen in Hinsicht auf Pflege und Krankenversorgung hegt, und nicht primär für andere, wie es das Ehrenamt in einer gemeinnützigen Organisation voraussetzt, auch wenn man damit rechnet, anderen Mitbewohnern Hilfe bieten zu wollen oder zu müssen. Man entfaltet also für sich selber die Lebensqualitäten, die oben beschrieben wurden.

Da aber ein Wohnprojekt vorrangig erst einmal seinen Bewohner selber nützt, können derartige Gemeinschaften auch nicht ohne weiteres als gemeinnützige Organisationen anerkannt werden, es sei denn, sie entfalten erhebliche gemeinnützige Aktivitäten nach außen, also für Andere, die nicht Mitglieder der Wohngruppe sind. Aber das gemeinschaftliche Wohnen als solches, beschränkt auf die Mitglieder eines Gemeinschaftsprojektes, ist erst einmal „eigennützig“ und nicht gemeinnützig. Diese Tatsache ist auch in der entsprechenden Rechtsprechung ganz klar formuliert. Daher ist es auch plausibel, wenn auf den ersten Blick vielleicht auch irritierend, wenn ein „Generationen übergreifendes“ Wohnprojekt nicht als gemeinnützig gilt, ein „Mehrgenerationenhaus“ als soziale Infrastruktur, in dem sich Menschen verschiedener Generationen tagsüber treffen, ohne dort zu wohnen, aber als gemeinnützig anerkannt sein kann. In diesem Fall betreibt ein Träger eine Einrichtung, die nicht ihm, sondern den Besuchern und damit eben der „Allgemeinheit“ dient. Würde dagegen eine Wohngruppe eine derartige Tageseinrichtung errichten, diese aber nur ihren Mitgliedern öffnen, könnte von „Gemeinnützigkeit“ wiederum nicht die Rede sein.

Erst ein nach außen aktiver Verein, der aus einem Projekt hervorgehen kann und sich z.B. um die Unterstützung anderer Projekte bemüht, kann evtl. den Status der Gemeinnützigkeit erreichen. Dies sind die Bedingungen, denen das Gemeinschaftliche Wohnen unterliegt und sie erscheinen so plausibel, dass gegenteilige Auffassungen manchmal schwer nachvollziehbar sind. Damit ist aber auch ein Förderanspruch, wie er häufig gestellt wird, nicht ohne weiteres einleuchtend. Dass Menschen eine Lebensform wählen, von der sie sich einen beträchtlichen Nutzen versprechen, begründet keinen Förderanspruch etwa nach dem Modell einer Wohnungsbauförderung. Aber nicht allein diese Orientierung an einem eigenen Nutzen würde öffentliche Förderung wenig plausibel erscheinen lassen. Wie unter dem Aspekt der „Lebensqualität“ beschrieben, steht und fällt das Gemeinschaftliche Wohnen mit der Informalität, dem Verzicht auf rechtliche Fixierungen dieser Wohnform, sobald diese über den Erwerb oder Betrieb eine Immobilie hinausgehen. Eine staatliche Förderung ist aber auf Gedeih und Verderb an die rechtliche Verregelung, Fixierung und Normierung des zu fördernden Tatbestandes gebunden. Diese kann, darf, und soll für das Gemeinschaftliche Wohnen gerade nicht hergestellt werden.

Man kann diese Zusammenhänge knapp und deutlich auch anders formulieren. Gegenstand staatlicher Förderung – im sozialpolitischen Bereich – sind nicht Lebensformen sondern Lebenslagen. Und diese sind in der Regel zweifelsfrei zu bestimmen und rechtlich zu fixieren, also z.B. die Einkommenslage, eine Behinderung oder Krankheit oder auch bestimmte Familiensituationen, wie z.B. die Lebenslage als allein erziehender Elternteil. Für solche Lebenslagen tritt sozialstaatliche Förderung dann in Kraft, wenn sie als Benachteiligung anerkannt sind, wenn also eine Art sozialpolitisch gewollter Umverteilung in Gang gesetzt werden soll. Das Gemeinschaftliche Wohnen „per se“ zählt nun als Lebensform weder zu den Lebenslagen, noch sind die Mitglieder von Wohnprojekten per definitionem bestimmten und definierbaren Benachteiligungen ausgesetzt, die eine Umverteilung, in welcher Form auch immer gerechtfertigt erscheinen lassen könnten. Menschen aller Lebenslagen, aller Einkommensniveaus, aller Alters- und Berufsgruppen können die Lebensform des Gemeinschaftlichen Wohnens wählen, und sie tun dies auch. Auch wenn keine statistischen Daten vorliegen, ist doch hinreichend bekannt, dass es zahlreiche Wohnprojekte mit gut verdienenden Mitgliedern gibt. Wollte man pauschal das Gemeinschaftliche Wohnen zum Fördertatbestand erklären, hätten auch gehobene Einkommensgruppen bei dieser Wohnform einen Förderanspruch. Damit würde eine „verkehrte Umverteilung von unten nach oben“ ausgelöst, und das ist sozialpolitisch weder zulässig noch wünschenswert.

Es herrschen bei diesen Bedingungen des Gemeinschaftlichen Wohnens häufig Unklarheiten und Verwirrungen. Wird z.B., wie dies in Nürnberg der Fall ist, ein Wohnprojekt für allein erziehende Mütter entwickelt und für dies Projekt eine nennenswerte kommunale und vor allem Landesförderung bereitgestellt, so handelt es sich zum ersten nicht um eine Art systematischer Regel- sondern um eine punktuelle Projektförderung. Zum zweiten wird im Grunde nicht die Lebensform des „Gemeinschaftliche Wohnens“, sondern die Lebenslage des Alleinerziehens gefördert, und dies aus der Einschätzung, dass mit dieser Lebenslage Belastungen verbunden sind, die durch die verfügbaren Förderinstrumente nur unzureichend ausgeglichen werden. Die – in diesem Fall geförderte – Lebensform des gemeinschaftlichen Wohnens ist in diesem Projekt also gar nicht der Fördergegenstand, sondern ein Instrument zur Unterstützung der besonders belasteten und belastenden Lebenslage des Alleinerziehens. Dieser wird mit Hilfe des Gemeinschaftlichen Wohnens geholfen, nicht das Gemeinschaftliche Wohnen „per se“ gefördert. Die Lebenslage ist der Fördertatbestand, nicht die Lebensform. Einer Wohngruppe von Familien mit guten Einkommen würde diese Förderung aus guten Gründen nicht zuteil werden.

Selbstverständlich kennt die Sozialpolitik Grenzfälle, auf die in den entsprechenden Debatten von Seiten der Verfechter einer Förderung des Gemeinschaftlichen Wohnens auch immer hingewiesen wird. Die Familienförderung auch von Paaren ohne Kinder scheint ein derartiger Grenzfall zu sein, denn hier wird ja offensichtlich keine Lebenslage, sondern auch eine Lebensform gefördert, z.B. durch das Ehegattensplitting. Ohne diesen Fall hier im Detail zu diskutieren, nur so viel: Es handelt sich hier ganz offensichtlich um eine veraltete Förderpolitik, deren Korrektur bereits erwogen wird, der also schwerlich Vorbildcharakter zukommen kann. Diese Förderung stammt aus einer Zeit, als man sicher davon ausgehen konnte, dass ein verheiratetes Paar auch Kinder haben würde. Da ein öffentliches Interesse an Kindern besteht, wurde daher auch das – noch – kinderlose Paar schon gefördert. Seit deutlich geworden ist, dass diese Annahme unzutreffend ist, wird eine Korrektur dieser „Familienförderung“ erwogen, die die Förderung tatsächlich an Kindererziehung binden soll.

Dennoch wird aber gerade an diesem Beispiel deutlich, dass es auch eine Argumentation für eine öffentliche Förderung des Gemeinschaftlichen Wohnens geben kann. Gemeinschaftliches Wohnen kann tatsächlich, wenn es in größerem Umfang verwirklicht wird, zu einer Entlastung des Sozialstaates beitragen, so dass ein öffentliches Interesse an dieser Wohn- und Lebensform bestehen kann, das die öffentliche Förderung rechtfertigen könnte. Die Projekte verfolgen zwar ihre eigennützigen Ziele in der Realisierung der Lebensqualität dieser Wohnform, bewirken aber darüber hinaus, gleichsam ohne es zu intendieren, hinter „ihrem Rücken“, ein Gemeinwohl, das z.B. in der Entlastung sozialstaatlicher Einrichtungen und Versicherungssysteme liegen kann. Die Förderung wäre dann nicht im Sinne einer Umverteilung zum Ausgleich von Benachteiligung, sondern als Stimulierung sozialer Innovation in allgemeinem, öffentlichem Interesse zu begründen.

Eine solche Argumentation für die Förderung des gemeinschaftlichen Wohnens ist selbstverständlich plausibel, auch wenn immer versucht werden muss, negative, gegenläufige Umverteilungseffekte zu vermeiden. Aber auch gegen diese Förderung spricht die Tatsache, dass eine staatliche Regelförderung auch dann, wenn sie auf soziale Innovation zielt, durch rechtliche Eindeutigkeit vor Missbrauch geschützt werden muss; und Eindeutigkeit meint hier klare juristische Fixierung des Tatbestandes des Gemeinschaftlichen. Diese aber soll und kann es nicht geben, wenn nicht der innovative Charakter des Gemeinschaftlichen Wohnens beeinträchtigt werden soll. Die Förderbedingungen würden also im Zweifelsfall das zerstören, was gefördert werden soll, ein vermutlich gar nicht mal so seltener Fall förderpolitischer Kontraproduktivität.

Dem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn man eine Förderung vorsieht, die sich nicht am Typ der staatlichen Regelförderung, sondern an dem der Modell- oder Projektförderung orientiert, die sich also immer nur auf beispielhafte Einzelfälle richtet, niemals aber „flächendeckend“ fördern will. Eine Einzelfallförderung aber ist, systematisch gesehen, nicht Gegenstand staatlicher, sondern kommunaler Förderpolitik. Staatliche Förderung bleibt im Grunde auf die rechtliche Normierung gerade jenseits des Einzelfalls angewiesen. Ihre Grundlage sind verallgemeinernde Gesetze, keine Einzelfallentscheidungen. Die Kommunen dagegen sind von ihrer Verfassungsposition nicht nur prädestiniert, sie sind dafür konstituiert, Einzelfälle der besonderen lokalen Gegebenheiten jenseits oder im Vorfeld staatlicher Verregelung politisch zu fördern oder zu unterstützen.

Damit wird erkennbar, dass das Gemeinschaftliche Wohnen seinen politischen Partner in der bürgerschaftlichen, vorstaatlich organisierten Kommune finden muss, nicht im Apparat staatlicher Politik und Verwaltung. Förderung des Gemeinschaftlichen Wohnens hat nicht Gegenstand gesetzlich normierter staatlicher Regelpolitik, sondern kommunaler Lokalpolitik als „freiwillige“, deswegen aber nicht minder verpflichtende Aufgabe zu sein; und „Freiwilligkeit“ heißt in diesem Zusammenhang ja bekanntlich nur, dass es sich nicht um einer Erfüllung staatlich verregelter Pflichtaufgaben handelt. Die Voraussetzung einer Förderpolitik für das Gemeinschaftliche Wohnen liegt also nicht in entsprechenden, aber immer verfehlten Gesetzesinitiativen, sondern im gemeinsamen Ringen um eine kommunale Finanzausstattung, die den Kommunen die wirkungsvolle Unterstützung sozial innovativer Ansätze auch möglich macht. Bislang wird das Feld einer Förderung des Gemeinschaftlichen Wohnens überwiegend durch staatliche Modellprojekte bestellt, die allerdings meist ihre Wirkung verfehlen, da den Kommunen nicht nur das Geld fehlt, selbst Modelle ins Leben zu rufen, sondern auch um die staatlich geförderten Modelle zu übernehmen, auf Dauer zu stellen und zu vervielfachen, wie es das Ziel jeder vernünftigen – staatlichen – Modellpolitik sein müsste, wenn es sie denn schon geben muss und nicht die Kommunen von vornherein die Akteure in der Innovationsförderung sein sollen.

Darüber hinaus haben Kommunen die Möglichkeit, ihre Förderung einzelner Projekte über deren Leistung einer Sozialstaatsentlastung hinaus, die nicht einmal von jedem Projekt in gleicher Weise erbracht werden wird, an konkrete Bedingungen der Kommunal- und Stadtentwicklung zu binden, die ohne jeden Zweifel für den Einzelfall einen öffentlichen Nutzen, ein Allgemeinwohl enthalten. So könnte die Förderung eines Projektes z.B. an die Nutzung eines etwas schwieriges Grundstück in einem sozialen Brennpunkt gebunden werden, das zu einem Vorzugspreis zur Verfügung gestellt wird, um auf diese Weise eine soziale Durchmischung zur Milderung einer Problemlage zu erreichen. Oder ein Projekt erhält als Gegenleistung für eine Förderung bestimmte Mischungsauflagen, so dass förderungswürdige Lebenslagen in das Projekt integriert werden.

Im Zentrum einer kommunalen Förderung werden aber vermutlich keine direkten, materiellen, geldwerten Förderungen von Projekten stehen, sondern Beratungsleistungen. Mittel- bis langfristig wäre daran zu arbeiten, dass jede Kommune mindestens eine Beratungsstelle für „Gemeinschaftliches Wohnen“ einrichtet, um Interessierte in dem beträchtlichen organisatorischen Aufwand, den diese Wohnform in ihrer Entwicklungsphase verlangt, behilflich zu sein. Materielle Förderungen treten dagegen in ihrer Bedeutung zurück. Gerade angesichts der bereits gegebenen, in Zukunft aber unabdingbar noch wachsenden Knappheiten bei sozialstaatlichen Leistungen, und Förderungen durch eine Kommune gehören auch in diesen Bereich, sobald finanzielle Hilfen zur Debatte stehen, sollten Geldtransfers strikt an Umverteilungsvorgänge zugunsten benachteiligter Lebenslagen gebunden werden, und das sind Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens nun einmal nicht.

Dennoch können natürlich auch die Mitglieder von Wohnprojekten, ganz unabhängig von dieser Lebensform, von staatlichen Transferzahlungen unterstützt werden, seien es Hilfen der Familienpolitik, der Sozialfürsorge etc. Auch wenn Gemeinschaftliches Wohnen keine neue und zusätzliche Aufgabe des Sozialstaates werden kann, bleibt dieser doch für entsprechende Lebenslagen auch in gemeinschaftlichen Wohnprojekten uneingeschränkt von Bedeutung, genau so, wie auch der Gegenpol zur staatlichen Fürsorge, die private Familie in ihren Sozialisationsleistungen unverzichtbare Voraussetzung des Gemeinschaftlichen Wohnens bleibt und in keiner Weise durch dieses ersetzt wird.

Mit einem solchen Förderkonzept sind die Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens auf die bürgerschaftliche Organisation der Kommune verwiesen, und als neue Ansätze von Bürgerschaftlichkeit jenseits sowohl staatlicher Regelförderung als auch karitativer Arbeit des Ehrenamtes erscheint das auch in höchstem Maße konsequent. Im Gemeinschaftlichen Wohnen könnte sich eine Lebensform entwickeln, in der sich privater Nutzen mit öffentlichem Wohl verbindet, wo das eine das andere bedingt. Im gemeinschaftlichen Leben und Wohnen verfolgen die Beteiligten einen eigenen Nutzen, wie er in der Beschreibung der Lebensqualitäten dieser Wohnform deutlich wird. Dieser private Nutzen hat gleichzeitig und untrennbar einen allgemeinen Nutzen zur Folge, wie er unter der Perspektive der Lebensbedingungen, die Gemeinschaftliches Wohnen heute nahe legen, erkennbar ist. Eine solche Synthese von privatem und allgemeinem Nutzen, eine solche Lebensform, in der private Interessen verfolgt werden, deren Realisierung auch und untrennbar dem Gemeinwohl dient, ist das, was klassischer Weise als Bürgerschaftlichkeit bezeichnet wird. Nicht dem stundenweise ausgeübten Ehrenamt, so nützlich es sein mag, kommt diese Bezeichnung, dieser Ehrentitel zu, sondern einer Synthese von privatem und öffentlichem Wohl in einer Lebensform, in einem Lebensstil, wie man auch sagen könnte. Das, und im Grunde nur das ist das wahrhaft „Bürgerliche“. Blickt man unter dieser Perspektive auf unsere moderne Gesellschaft, wird man leicht feststellen, dass solche Synthesen, solche Lebensformen äußerst rar sind. In der Regel werden private Interessen verfolgt, die in krassem Widerspruch zum öffentlichen Wohl stehen und daher mühsam durch Regeln und Gesetze eingedämmt, sozial verträglich gemacht und domestiziert werden müssen. Im Gemeinschaftlichen Wohnen könnte sich zumindest potentiell eine solche neue Bürgerschaftlichkeit im umfassenden Sinne herausbilden, wenn alle die Gefahren, die an seinem Wege lauern – soziale Abgrenzung von Projekten zu „gated communities“, soziale Überforderung durch unerfüllbare Integrationsvorstellungen, sozialpolitischer Klientelismus durch ungerechtfertigte Förderungsvorstellungen, Innovationen hemmende Formalisierungen und Verrechtlichungen, um staatlichen Förderbedingungen zu genügen – sorgfältig umgangen und vermieden werden.

 

Resümee


Mit dem Gemeinschaftlichen Wohnen reagieren Menschen zunehmend auf bedrohliche Lebensbedingungen, die durch demographische und ökonomische Trends ausgelöst werden: Alterung, Dienstleistungskrise, Sozialstaatskrise. Durch Selbsthilfe in Wohnprojekten versuchen sie, sich vor solchen neuen krisenhaften Bedrohungen zu schützen und sich auch für den Fall von Krankheit, für Alter und Pflegeabhängigkeit die Bedingungen eines würdevollen Daseins zu schaffen, die sie in den formalen Institutionen des Sozial- und Gesundheitswesens vermissen. Darüber hinaus aber suchen sie eine bestimmte Lebensqualität gegen Vereinzelung, gegen Isolation durch die Entwickelung einer Gemeinschaftlichkeit, die Sicherheit und Vertrautheit gewähren, die Kontrollen und Zwänge traditioneller Gemeinschaften aber vermeiden soll. Und schließlich entfaltet sich – potentiell – im Gemeinschaftlichen Wohnen eine im wahrsten und besten Sinne dieses Wortes bürgerschaftliche Lebensform aus einer Synthese von privatem und öffentlichem Wohl, die durch Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens verwirklicht werden kann. In den Projekten des Gemeinschaftlichen Wohnens erreichen die Mitglieder eine eigene, ihnen als Mitglieder eines Projektes zu gute kommende Lebensqualität des Gemeinschaftlichen, verfolgen also eigene Interessen, realisieren aber gleichzeitig, wenn auch nicht intendiert so doch untrennbar mit ihrem persönlichen Interesse verbunden, ein Allgemeinwohl, einen allgemeinen, öffentlichen Nutzen, der diese Projekte auch zum Gegenstand öffentlicher Politik – im Sinne einer Förderung und Unterstützung sozialer Innovation – erheben kann. Da es sich aber bei den Projekten des Gemeinschaftlichen Wohnens immer um nicht verregelbare Lebensformen, niemals um definierbare Lebenslagen handelt, erscheint die Kommune als der genuine politische Partner des Gemeinschaftlichen Wohnens, nicht die staatliche Politik, die immer auf rechtliche Normierung von Fördertatbeständen angewiesen bleibt.

Ihrer innovatorischen Leistung aber werden Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens in vollem Umfang nur dann gerecht, wenn sie aus vollem Selbstbewusstsein die Synthese von privatem Nutzen und Allgemeinwohl vollziehen und verwirklichen, ohne sich als Gegenleistung für den immer unwägbaren öffentlichen Nutzen, den sie bewirken, zu Klienten öffentlicher Subventionspolitik zu erklären. Das bürgerschaftliche Engagement, das die Projekte des Gemeinschaftlichen Wohnens bestimmt und ausmacht, entfaltet sich nur dann, wenn Gemeinschaftliches Wohnen als selbst gewählte, autonome Lebensform ohne Subventionsmentalität und Klienteldenken verwirklicht wird. Am besten kommen seine Wirkungen nach innen und nach außen – Entwicklung einer gemeinschaftlichen Lebensqualität und soziale Innovation – dann zur Geltung, wenn es sich ganz auf seine ihm eigene Ressource, auf Solidarität stützt, jenseits von Markt und Staat.

 

Dr. Albrecht Göschel
Hufelandstr. 22
10407 Berlin
a.goeschel@arcor.de